Essen und Gesundheit – Fahrradfahren auf 4000m Höhe
Wir verlassen am frühen Morgen das Hostel und durchfahren Dushanbe, um nach Südosten zu gelangen. Dabei kommen wir an vielen Prachtbauten vorbei, eine kurze Besichtigungstour wird sich doch noch in den Zeitplan einbauen lassen, so denken wir. Dass es Mittag wird, bis wir den Innenstadtbereich verlassen, damit rechnen wir nicht. Nicht umsonst gilt diese Stadt als die schönste der Hauptstädte Zentralasiens.
Nun haben wir aber genug von goldenen Kuppeln, Siegessäulen und Palästen und fühlen uns von der Natur und den Bergen des Pamir-Gebirges angezogen. Im Moment befinden wir uns noch auf unter 1000 Metern Höhe und haben den alten, aber kürzeren nördlichen Streckenabschnitt nach Korogh gewählt. Dieser Weg mit deutlich schlechteren Straßen ohne Asphaltdecke und einem 3253 Meter hohen Pass soll uns schon mal ein wenig akklimatisieren und einen Vorgeschmack auf die miesen Straßen geben.
Von wärmenden Sonnenstrahlen begleitet, geht es nun auch schon das erste Stück nach oben – der erste, echt sanfte Anstieg zum Dach der Welt. Wir werden von fruchtbaren Feldern begleitet und sehen im Hintergrund schon die ersten Erhebungen. Es fühlt sich gut an, ich freue mich riesig auf die kommenden drei Wochen und die ersten schneebedeckten Berge. In der Nacht finden wir einen Schlafplatz zwischen saftigen Apfelbäumen mit Traum-Aussicht, die wir in nächster Zeit häufig bekommen werden.
Die Blumen blühen, der Himmel ist blau, die Felder zeugen von reicher Ernte und überall pflücken und arbeiten die Menschen auf den Feldern. Alles ist im Überfluss zu bekommen, es scheint fast so, als ob es den Menschen hier richtig gut gehen müsste. Ständig grüßt uns der Präsident von Plakaten, auf denen er mal Feldarbeit betreibt, Kindern in der Schule hilft oder wichtige Dokumente im Anzug unterschreibt. Ich kann die russischen Sätze der Plakat-Tafeln nicht lesen, aber er muss ein richtiger Vater (ein Traum-Präsident) für die Nation sein – so scheint es mir.
Entlang eines echten, zentralasiatischen Tiermarktes fahren wir dem ersten großem Pass meiner Reise entgegen. Der Straßenasphalt hat nun endgültig aufgehört, doch bei bestem Wetter stört uns das noch nicht wirklich, die Straße ist aufgrund des niedrigen Verkehrs echt gut zu fahren. Wir können den Schlaglöchern gut ausweichen und der ab und an von Autos aufgewirbelte Staub ist auch besser zu ertragen als gedacht. Wir kaufen bei letzter Gelegenheit nochmal reichlich Obst und Gemüse ein und machen uns dann auf den Weg durch atemberaubende Schluchten und Flusstäler. Es ist herrlich die tiefen Einschnitte und weiten Aussichten zu genießen, von denen wohl noch mehr kommen werden. Unsere Pausenplätze werden gut gewählt, um anzuhalten und inne zuhalten, um sich den Moment bewusst zu machen und um festzustellen, was für ein Glück es doch ist, hier zu sein.
Am Abend treffen wir auf die drei Schweizer und Gustav, die einen Tag früher gestartet sind. Wir sind nun ein Sechser-Konvoi und beschließen zusammen zu zelten. Auf einer wirklich idealen Wiese finden wir genügend Platz, um bestimmt 100 Zelte aufzubauen und haben einen idealen Blick auf die Berge und einen traumhaften Sonnenuntergang. Wir essen gemeinsam und erleben einfach intensiv diesen Moment. Ein klarer Sternenhimmel krönt diesen Abend, die Milchstraße und viele mir unbekannte Sterne sind zu erkennen. Es ist ein Moment, der schwer aufzunehmen ist, aber sich für immer auf meiner Netzhaut eingebrannt hat. Am nächsten Morgen starten Reiner und ich nach gemeinsamen Frühstück zu zweit. Wir haben einen knappen Zeitplan und können uns nicht so viel Zeit wie die Schweizer lassen.
Vorbei an der ersten Militärkontrolle können wir endlich mit dem 1800 Meter-Anstieg zum Pass beginnen. Die Soldaten tragen stets unsere Personalien und Visum-Daten in ein Papier-Heft ein, das gerne auch anderweitig eingesetzt wird. Auf einigen Plumpsklos entdeckte ich als investigativer Journalist, dass sie diese Zettel als Klopapier-Ersatz benutzen – wozu dann dieser ganze Bürokratie-Aufwand – naja, immerhin tun sie etwas für den Klimaschutz.
Die Straße hinauf zum Pass zieht sich ganz schön, doch bei bestem Wetter und Gerüchen, die mich an den Schwarzwald erinnern, kommen wir Stück für Stück unserem Ziel entgegen. Vorbei an kleinen Dörfern, fahren wir bald an die Grenze, an der keine Bäume mehr wachsen. Nun gibt es nur noch von Wiese bewachsene Berghügel, die hinter jeder Kurve immer höher und länger werden. Doch jeder Berg hat irgendwann einmal ein Ende und so kommen wir am frühen Abend am höchsten Punkt der Straße an und vor uns breiten sich riesige Bergketten mit teils weißen Gipfeln aus. Es ist unglaublich, wozu mein Körper mit dem schwer bepacktem Fahrrad fähig ist. Reiner und ich beschließen gleich am Pass zu übernachten und klettern 200 Meter zu einem alten verlassenen Militärposten hinauf, von wo aus man noch weiter in die Ferne blicken kann. Beim Abstieg erlebe ich einen der schönsten Sonnenuntergänge meiner Reise.
Am nächsten Morgen folgt der Abstieg, teils auf in den Fels gehauenen Straßenabschnitten, von wo aus es tief in die Schluchten geht. Insgesamt lege ich mich auf dem echt groben Schotter zweimal samt Fahrrad hin bzw. kann mich einmal gerade noch aufrecht halten. Nun gehe ich kein Risiko mehr ein und rolle die schlechte Straße bei angezogenen Bremsen 1500 Meter in die Tiefe. Am Fuße des Berges erwartet uns ein türkisfarbener Fluss, in dem wir gleich ein Bad nehmen und unsere Kleider waschen, bevor wir nach Kalai-Khomb einfahren. Es ist für uns die erste Stadt auf tadjikischer Seite, die direkt an der afghanischen Grenze liegt, es ist das erste Mal, dass ich ein Land sichte, welches mich fast mein ganzes Leben in den Medien begleitete.
Wir kaufen reichlich ein und folgen dem Grenzfluss Panj immer entlang der beiden Länder, der in einem ständigen Auf und Ab nach Korogh führt. Insgesamt machen wir über 1300 Höhenmeter an diesem Tag, doch effektiv sind wir nur 300 Meter gestiegen. Es ist über 52°C heiß und sehr anstrengend, doch die höheren, hoffentlich kühleren Lagen geben uns genügend Motivation, um weiter zu fahren. Das Hitze-Training in der turkmenischen Wüste und im Iran scheinen sich bezahlt zu machen.
Wir sehen meist auf die afghanische Seite, sehen Lehmhütten und sauber gepflegte kleine Felder, viele lachende Kinder und eingekleidete Frauen, die im Fluss baden. Es scheint so, als hätten diese kleinen Dörfer keine Probleme, doch die Taliban ist wohl auch gerade in dieser Landzunge Afghanistans aktiv, wovon wir aber nichts mitbekommen.
Das Baden lassen wir lieber sein, da immer noch vereinzelt Landminen am Panj-Fluss zu finden seien, obwohl die tadjikische Bevölkerung es stets verneint. Das Zelten trauen wir uns aber zu, bleiben aber immer auf bewirtschafteten Wiesen-Abschnitten, ein unnötiges Risiko wollen wir nicht eingehen. Weiter entlang grandioser Landschaften und kleiner Dörfer erreichen wir nach einer guten Woche Korogh. Es ist die Stadt, die uns so viele Probleme machen könnte, wenn erneut Unruhen ausbrechen würden. Mit dem Erreichen dieser Stadt ist ein Großteil geschafft und die eigentliche Hochgebirgsfahrt kann nun beginnen. Wir entscheiden uns nach einer Nacht in der Pamir-Lodge (wo wir wieder auf Gustav und Rolf aus der Schweiz treffen) den Wakan-Korridor weiter entlang der afghanischen Grenze zum Hindukusch zu fahren. Dieses Mal werden wir von dem Schweizer Paar Lucas und Anna begleitet, mit denen ich in der Türkei Email-Kontakt hatte und diese nun per Zufall mitten in Tadjikistan getroffen habe. Die Adresse hatte mir damals kurz vor Istanbul der kalifornische Weltumradler gegeben.
Alles Schöne ist schön, solange man fähig ist, diese Schönheit wahrzunehmen. Mit neuen Extremen, wie der Höhe, der ultra schlechten Straßenqualität und der mangelnden Versorgungsmöglichkeit hat sich bei mir auch der Durchfall eingeschlichen, der mir noch starke Probleme machen wird. Davon weiß ich aber noch nichts, als wir in Richtung Ishkashim starten. Tage zuvor hatte ich mir die Bakterien wohl bei einer Fleischsuppe eingefangen und tags drauf noch leichtes Fieber bekommen. Ich schob das alles zunächst auf die große Hitze und nicht genügend Flüssigkeitszufuhr. In Korogh ging es mir dann wieder besser, so dass ich mich eigentlich fit genug für das Wakan fühlte.
Nach zwei Tagen durch den Wakan schwinden langsam meine Kräfte und der Durchfall wird lästiger. Lucas und Anna biegen für einen kurzen Trip zu heißen Quellen ab, während Reiner und ich nach vorne blicken. Wir sind nun wieder alleine unterwegs und fahren bis Langar, wo der letzte kleine Versorgungsladen für die nächsten 120 Kilometer zu finden ist. Außer Keksen hat er aber leider nichts zu bieten, die Versorgungssituation ist wirklich schlecht. Obst und Gemüse sind eigentlich nicht mehr zu bekommen, nur Yak-Milch und Brot. In den Gerichten findet sich eigentlich keine Farbe, nur Reis, Brot und Milch gibt es zu essen und trinken – ein weiterer Umstand, der mich nicht wieder zu Kräften kommen lässt. Nach Langar geht es auf anstrengender, versandeter Straße in wenigen Kilometern knapp 1000 Meter hinauf. Junge Jugendliche haben es sich zum Geschäft gemacht uns Radtouristen zu unterstützen und schieben mit uns die Räder über eine halbe Stunde über Stock und Stein. Es ist super anstrengend und das Tempo ist echt hoch. Am Ende wollen sie dafür entlohnt werden, aber geben sich in dieser Gegend, wo die Menschen angeblich nur 200$ pro Jahr verdienen, mit einer kleinen Spende mehr als zufrieden.
Vor uns breitet sich der Hindukusch aus und wir zelten auf 3500 Metern Höhe. Vielleicht hat mich die Höhenkrankheit (obwohl ich das bis heute nicht glaube) ein wenig erwischt, denn für die nächsten 4 Tage geht es mir richtig schlecht. Sobald ich vom Fahrrad steige, muss ich mich setzen und hinlegen, habe keine Kraft mehr mich neben das Fahrrad zu stellen. Das Fahren funktioniert noch und da nicht wirklich mit Hilfe gerechnet werden kann, gibt es nur den Weg nach vorne. Abends kocht Reiner für mich mit und filtert das Wasser, ich schaffe es immer gerade so das Zelt aufzubauen und falle erschöpft auf meine Isomatte. Das Essen bleibt durch den Durchfall nicht lange genug im Körper, um genutzt zu werden und auf das wenige trockene Brot habe ich keinen Appetit mehr. Ich leide zum ersten Mal an echter Appetitlosigkeit, kann selbst die Nudeln oder Reis nicht mehr essen. Ich habe auf gar nichts mehr Lust, keinen Hunger und keine Kraft, um überhaupt nur kurz zu stehen. Reiner macht sich große Sorgen, dass ich irgendwann nicht mehr weiter kann, doch solange ich noch im Sattel sitze, müssen wir Strecke machen, um Murgab – das rettende Paradies – zu erreichen.
Auf wirklich kräftezehrender Sandpiste wird das 50kg-Radmonster Stück für Stück durch den Sand geschleift. Es geht auf knapp 4400 Meter Höhe bis wir endlich den rettenden Scheitel erreichen, von wo aus es nur noch bergab bis Murgab geht. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl als wir wieder auf den wirklichen asphaltierten Pamir.-Highway treffen, von nun an geht es nicht mehr mit 7 km/h sondern mit durchschnittlich 40 km/h in Richtung rettender Stadt (eher Dorf). Jetzt nur noch irgendwie im Sattel halten und auf eine Höhe von 3500 Meter abfahren. Doch bis wir in Murgab ankommen, liegt noch eine Nacht in einer Yurte vor uns. Ich schlafe nahezu die ganze Zeit und am nächsten Morgen starten wir auch später, doch weitere Tage will ich nicht dort bleiben, denn das Essen ist nicht wirklich reichlich. Murgab hat eine zu große Anziehungskraft auf mich, ich möchte endlich im rettenden Hafen ankommen und dort wieder zu Kräften kommen. Nach über 100 Kilometern bergab erreichen wir die kleine Stadt. Wir bleiben insgesamt 3 Nächte und ich nehme zum ersten Mal Antibiotikum, das wie eine Bombe einschlägt. Innerhalb dieser wenigen Tage kommt der Appetit Stück für Stück zurück und die bösen Bakterien werden abgetötet.
Ich habe noch mit einem Tour-Abbruch bei Osh gerungen, doch Stunde um Stunde geht es mir besser. Mit Schokoriegeln und Softdrinks, Obst und Gemüse und wieder Farbe im Essen lebt es sich für den Augenblick ohne Radfahren ganz gut. Mit über 4000 Metern Höhe und dem höchsten Punkt meiner Reise eine Woche später hatte ich nicht nur die extremste Höhe, sondern auch das größte Tief meiner bisherigen und hoffentlich ganzen Reise erlebt. Es machte sich wirklich bezahlt zu zweit zu radeln und so ging es am vierten Tag weiter in Richtung Karakol und kirgisischer Grenze. Vorbei an einzelnen Yaks und Yurten fahren wir auf einer riesigen Hochebene mit 4655 Metern über dem Meeresspiegel unserem höchsten Pass entgegen.
Dieses Mal scheint die Höhe Reiner zu schaffen zu machen. Ich bin glücklicherweise wieder fit genug, um mich für seinen fürsorglichen Einsatz im Wakan zu revanchieren. Die Straße ist aber zu schlecht, um schnell abzusteigen, doch wir finden auf 4300 Metern Höhe eine Gelegenheit in einem Zelt zu schlafen und bekommen sogar etwas zu Essen. 8 Kilometer geht es auf unasphaltierter Wellblech-Rüttelpiste bergab, ein Alptraum mit 10 km/h fast so langsam bergab zu holpern wie man hinauf gefahren (bzw. geschoben) hat.
Am nächsten Tag schleppt sich Reiner vor herrlicher Hochgebirgskulisse in Richtung Karakol, dem letzten kleinen Dorf vor Kirgistan. Wir machen insgesamt 3 Stunden Pause bevor wir bei Gegenwind noch 20 Kilometer weiter fahren, um einen Tag früher nach Kirgistan zu kommen bzw. die zwei letzten Pässe in einem Rutsch fahren zu können. Sary Tash in Kirgistan ist dieses Mal das angestrebte Ziel, das mit 3100 Metern Höhe wieder flach genug liegt, um sich zu regenerieren.
Bei Karakol liegt trotz des vielen Windes einer der schönsten Bergpanorama-Zeltplätze, die ich jemals hatte und in Kombination mit dem dunkelblauen Hochgebirgs-See ist dies ein weiterer Moment, der sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Wegen starken Windes und dieses Mal 20 Kilometern übelster Erd-Holper-Rüttel-Wellblech-Piste und Geschwindigkeiten von 5 km/h erreichen wir erst gegen späten Mittag am 8.August den Grenzpass zwischen Tadjikistan und Kirgisistan. Es ist das erste Mal, dass ich mein Permit zeigen muss und da ich nun die Region verlasse, wird dieser direkt einbehalten. Wegen starker Bewölkung wird uns am Pass leider der Blick auf den über 7000 Meter hohen Pik Lenin verwehrt, doch wir verweilen dennoch kurz, denn wir haben zusammen trotz einiger Schwierigkeiten den Pamir zusammen erfahren und sind gemeinsam ein Stück Lebensweg in einer der extremsten Landschaften dieser Erde gefahren.
Wenn immer alles nach Plan verlaufen würde, dann wäre die Reise am Ende wahrscheinlich nur halb so viel wert. Bisher ist alles unter einem so guten Stern verlaufen, dass selbst die Schwierigkeiten im Wakan die Sicht dieser Reise nicht verändern können. Zu überwältigend waren die Eindrücke dieser Landschaft, zu krass und kaum verständlich, dass an diesen Orten Menschen leben, bzw. überleben. Wir sind in der besten Reisezeit im Hochsommer durch dieses Gebirge gefahren, als viele Früchte und viel Angebot an Pflanzen und Nahrung vorhanden war. Doch wie sieht es im Winter aus, wie leben die Menschen dann? Es ist für mich nicht vorstellbar – die Orte und Yurten wirkten für mich stets idyllisch, doch viele Menschen sahen schon sehr „verbraucht“ aus.
Das Projekt Pamir war zwar nicht eine Reise an das andere Ende der Welt, aber an eines von vielen Enden. Nicht umsonst wird der Pamir-Highway als der Weg auf das „Dach der Welt“ bezeichnet, von dem eine unglaubliche Faszination ausgeht.