Entlang der Küste bis nach Sydney
Ich bin noch etwas erschöpft, doch die riesige Flächenstadt Melbourne mit über 100 km Ausdehnung liegt hinter uns. Ruhigere Straßenabschnitte, weitflächige Naturgebiete und der letzte Abschnitt nach Sydney geben uns Anlass zur Freude und da wir für diesen Teil der Reise genügend Zeit eingeplant haben, werden wir es weiterhin ruhig angehen lassen. Wir schlafen die erste Nacht aus und machen erst gegen Vormittag bei Kilometerstand 12 die ersten Besorgungen.
Nach unserem Einkauf ruhen wir noch auf einer Bank und essen Eis, als wir plötzlich von Hans angesprochen werden, der nur unweit vom Supermarkt entfernt wohnt und uns zu sich einlädt. Mit 5 Jahren kam er damals während des Krieges aus Deutschland nach Australien und war selbst 5 Monate als Aktivist in Europa mit dem Fahrrad unterwegs. Als wir kurze Zeit später seiner Einladung folgen, baut er seinen alten Nissan-Bus aus, um seinen letzten Lebensabschnitt als „Grauer Nomade“ irgendwo in den Weiten des Kontinents zu verbringen. Wir bieten ihm unsere Hilfe an und verbringen am Ende vier Nächte dort, obwohl alles nur mit einer Einladung zum Kaffee anfing. Wir fühlen uns unglaublich wohl, können endlich mal etwas Abstand vom Radfahren gewinnen und uns einige Tage ausruhen und verlassen Hans nach dieser warmherzigen Begegnung mit einem weinenden und lachenden Auge.
Unsere nächste Station heißt nach einer weiteren Woche „Philipps Island“. Wir bestreiten diesen Abstecher, da wir dort voller Hoffnung Pinguine und Robben erwarten. Doch unsere Vorfreude wird schnell in realistische Bahnen gelenkt, da Erstere nur in der Dämmerung anzutreffen sind und Letztere über 4 Kilometer von der Küste entfernt auf einer Felsen-Kolonie leben. Einen weiteren Umweg von 60 Kilometern wollen wir dafür nicht in Kauf nehmen und machen uns auf den Weg entlang der Küste. Zurück auf dem Festland kochen wir uns Nudelsuppe auf den hervoragend öffentlich angebotenen BBQ-Plätzen, als wir Zeuge einer Pelikan-Fütterung werden. Riesige Vögel sind das, die sich unbeeindruckt von der Zuschauer-Menge um den zugeworfenen Fisch streiten.
Als neben dem Fisch auch unsere Nudeln verspeist sind, brechen wir auf und müssen das Rad voller Kraft in den Gegenwind drehen. Über den Vormittag hatte dieser ziemlich an Stärke zugenommen und bläst bei erneuter Rast Siegfrieds Fahrrad um, wodurch sein Ständer bricht. Mit oberster Priorität entwickeln wir eine Bastel-Selbstreparatur-Lösung und finden in einer Holz- und Eisen-Künstlerwerkstatt das benötigte Werkzeug.
In der darauffolgenden Woche beradeln wir das süd- und östliche Gippsland. Es bietet uns eine landschaftlich schöne Abwechslung, doch der Himmel ist weiterhin auf einem Regentrip, der unseren Gemütern ganz schön zusetzt. Ende Januar ist es mittlerweile und damit sommerliche Hochsaison, doch die versprochenen 40°C bleiben aus. Es geht so weiter wie zuvor, die Regensachen können wir selten länger als einen Tag in unseren Taschen verstauen.
Wir halten dennoch an unserem Plan fest auch die lokalen Sehenswürdigkeiten nicht auszulassen, um wenigstens kleine Akzente über den Tag zu setzen. So übernachten wir am Lake Wellingten bei Sale und erklimmen die Agnes Falls, die höchsten Wasserfälle Victorias. Meist haben wir mit kräfteraubenden Gegenwind zu kämpfen, doch es werden wieder mehr versteckte Plätze zum Wildcampen erkennbar, obwohl das Land weiterhin übermäßig eingezäunt ist.
Insgesamt bietet auch die fünfte Woche kaum Neues. Weiterhin treffen wir auf der Straße verwesende Känguru- oder Wombat-Kadaver, saufen im Stark-Regen ab und müssen eine lange Durstrecke von Orbost bis Eden überwinden. Da auf diesem Teil der Strecke nur tiefschwarze Wälder stehen, finden wir gute Plätze versteckt in der abgelegenen Natur. So kommen wir immer mehr mit der Tierwelt in Kontakt und können bei absoluter Ruhe ausschlafen. Wir teilen uns den Wald mit hügelbauenden Termiten, umherhüpfenden Kängurus, unzähligen Mücken, giftigen Schlangen, Papageien und Echsen. Wir freuen uns schon auf Neuseeland, wenn in Australien das Wetter verrückt spielt, dann müssten wir doch in Neuseeland Sonnenschein pur bekommen.
Die Zeit bis zum Abflug Mitte Februar ist auch nicht mehr allzu lang. Ab Eden geht es für uns nun auch hauptsächlich in Richtung Norden und Sydney. Ein paar Mal zeigt sich sogar die vermisste Sonne, doch der anstrengende Gegenwind bleibt. Wir kämpfen uns durch die kräftezehrende Hügellandschaft entlang der Küste und müssen viele steile Anstiege mit immerhin auch befreienden Abfahrten erklimmen. Da wir noch genügend Zeit haben, wollen wir 350 Kilometer vor Sydney auf einem Zeltplatz mitten im Nationalpark am Strand einige Nächte verbringen. Wir machen insgesamt zwei Ruhetage und lernen den Eisverkäufer Bernd und seine Frau kennen, die seit über 18 Jahren immer für 3-4 Monate im deutschen Winter nach Australien kommen und stets die selben Orte und Menschen besuchen.
Nach zwei Pausentagen sind unsere Vorräte erschöpft und wir fahren nach Narooma, um einzukaufen und Emails zu checken. In meinem Postfach befindet sich eine Nachricht, dass wir bei Sydney unterkommen könnten und so verlassen wir die Abgeschiedenheit des Nationalparks und machen uns auf den Weg in die etwas westlich von Sydney gelegenen Blue Mountains. Eigentlich ist für die 180 Kilometer Umweg keine Zeit mehr, doch Lois, eine ältere Dame hatte uns so unglaublich nett geschrieben, dass wir es versuchen wollen. Mit wieder über 100 Kilometer Hetzerei schaffen wir es Mittags, zwei Tage vor unserem Flug immerhin einen Abend und den Vormittag des darauffolgenden Tages mit ihr zu verbringen.
Auf dem Weg dorthin werden wir jedoch häufig von australischen Autofahrern beschimpft: „Haut von der verf****** Straße ab“, schreien sie, hupen und zeigen uns den Mittelfinger. Radfahrer werden generell nicht auf Australiens Straßen respektiert, das ist unser Resumee nach sieben Wochen. Ein einheimischer Radfahrer wurde sogar mal mit faulem Obst beschmissen, da haben wir mit verbalen Attaken und aggressiven Stops, um uns zu schlagen, echt noch die leichte Variante erlebt. Ich möchte nach einer extremen Anhäufung von Aggressivität nur noch auf den großen Straßen unterwegs sein, da diese einen Seitenstreifen haben und es sich trotz erhöhten Verkehrs mehr ertragen lässt. Ungelogen 20 Mal innerhalb von 2 Kilometern beleidigt zu werden (sogar aus dem Gegenverkehr) ist echt zuviel und verdirbt mir die Lust noch die letzte Woche in diesem Land zu verbringen, das laut eines australischen Zeitungsberichts zu einem der rassistischsten Ländern der Welt gehört.
Als wir bei Lois ankommen, lassen wir aber für den Ausflug in die Blue Mountains unsere Fahrräder stehen und genießen den Luxus, die unzähligen Hügel mit dem Auto ohne Anstrengung zu erfahren. Wir haben „gutes“ Wetter, das bisschen Regen und Gewitter macht uns im Auto schließlich nichts aus. Bevor wir Lois am nächsten Tag verlassen, lädt sie uns noch zum Mittagessen in einen Workers-Club ein, in dem die Arbeiter-Schicht ihre Zeit verbringt. Bingo, Bowlen oder Casino-Glückspiel – eine echt traditionell australische Erfahrung.
Am Abend stellen wir kurz vor Sydneys Innenstadt das Zelt neben einer Motorway-Brücke auf, unter der der Fahrradweg verläuft, bevor wir die Hauptattraktionen mit der Harbour-Bridge und der Oper am nächsten Morgen abfahren. Es ist ein recht stressiger Tag, der genau durchstrukturiert ist, denn wir müssen neben den Sehenswürdigkeiten auch noch Fahrradkartons besorgen und in voller Konzentration unsere letzten Stunden mit Packen und Sortieren am Flughafen verbringen, bis wir ins Flugzeug zum „anderen Ende der Welt“ steigen.
Am Schluss sind es meist die nicht ganz so positiven Erinnerungen an Australien, die im Kopf bleiben: Wilcampen verboten, eingezäuntes Land, aggressive Fahrer, lange Distanzen, wenig abwechslungsreiche Attraktionen und ein regenreicher Sommer. Es fällt schwer die einzigartige Natur mit ihren Koalabären, Kängurus, Opossums, Papageien und Robben in den Vordergrund zu stellen, denn man gewöhnt sich so schnell an all diese Dinge, dass am Ende kaum noch für diese anders aussehende Welt gestoppt wird. Sie wird Alltag und in diesem sind nun mal der Verkehr und die Schlafplatzsuche die primären Attribute. Wenn ich heute an Australien zurück denke, dann erinnere ich mich an Adelaide und die Ziegenfarm, Melbourne mit Hans und Lois bei Sydney, die Australien zu einer persönlichen Erfahrung gemacht haben. Die flüchtigen meist nur oberflächlichen Kontakte mit Australiern sind meist schon nach dem Gespräch vergessen. In die Enge getrieben haben wir uns oft gefühlt, als Radfahrer keinen echten Platz habend und nachts wie die Gauner verstecket zu nächtigen, war unsere Tagesordnung. Da ist die Vorfreude auf Neuseeland mit seinen nur 4 Millionen Einwohnern groß, es kann ja fast nur leichter werden.