China, Teil 1: 12.08. – 01.09.2014

Endlich China – oder doch nicht? Auf jeden Fall Xinjiang!

In Tadjikistan hatten wir Kontakt zu zwei bergsteigenden Österreichern, die ein paar Wochen vor uns in Osh waren und aus China nach Zentralasien einreisten. Sie hatten gehört, dass nach Aufständen in der Nähe von Kashgar hunderte Menschen getötet wurden und das Minderheiten-Volk der Uiguren nun auch auf Touristen losgehen würde, um internationale Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Grenzen seien natürlich für Ausländer geschlossen und die Flüge von Osh nach China hätten sich preislich verdreifacht.

Auf den Weg nach Kirgistan trafen wir dann auf zwei Deutsche, die uns das auch berichteten. Auf die Nachfrage, wo sie das gehört hätten, sagten sie, dass sie drei aufgebrachte Koreaner auf Fahrrädern getroffen hätten, die völlig fertig seien und nicht mehr weiter wüssten.

Ups, das mussten wohl die drei Koreaner gewesen sein, die im selben Guesthouse mit uns in Murgab eine Nacht verbrachten, denen wir selbstverständlich die heißen Informationen der Österreicher mitteilten. Beruhigt radelten wir damals weiter, denn die Information stammte ja ursprünglich mehr oder weniger von uns. So ist das wohl in Zentralasien: wilde Gerüchte verbreiten sich schneller als man fahren kann.

Keine zwei Wochen später war es dann endlich soweit. Rolf und ich waren an der Grenze nach China angekommen. In Tadjikistan teilweise weniger als 10 Meter vom Grenzzaun entfernt, betraten wir nun chinesisches Territorium. Die Straßen waren auf einen Schlag so gut wie in Europa ausgebaut, was zur tiefen Erleichterung führte. An der „alten“ Grenzstation (wie sie heute genannt wird) checkten die Beamten des Immigration Service unser Gepäck und unsere Pässe, um diese nach stundenlanger Wartezeit einem Taxifahrer zu geben. Nach offizieller Broschüre dauert der ganze Prozess bei 95% der Reisenden weniger als 20 Minuten. Wir gehörten wohl eindeutig zu den anderen 5 Prozent.

Seit der Modernisierung der Straße vor wenigen Jahren ist ein Befahren der Strecke mit dem Fahrrad bis zur „neuen“ Grenzstation nicht mehr möglich. Man muss die Dienste eines völlig überteuerten Taxis (400¥ ~ 50€€) in Anspruch nehmen, das einen die etwas über 100 Kilometer lange Strecke von Station zu Station chauffiert. Erst dort bekommen wir nach offizieller Einreiseprozedur unsere Stempel in den Pass gedrückt, reißen uns von unserem Taxi-Wächter fort und sind erleichtert endlich in China angekommen zu sein. Die Provinz Xinjiang ist eigentlich für Individualreisende gesperrt, man darf nicht mit eigenem Fahrzeug einreisen (unser Fahrrad zählt als Gepäckstück) und durch die Unruhen südlich von Kashgar waren wir sogar dreifach erleichtert uns endlich in dieser abgeschiedenen Region Chinas zu befinden.

Es war bereits nach 16 Uhr als wir die Grenzstation verließen und uns war klar, dass wir Kashgar an diesem Tag nicht mehr erreichen können. Schon in der ersten beschäftigten Stadt fiel uns auf, dass wir in einem riesigen Milliarden-Land angekommen waren. Nur 4% der Chinesen sind in Chinas Westen zuhause, doch nach den einsamen Landschaften Zentralasiens war es ungewohnt wieder Hochhäuser, breite Alleen und so viele Menschen auf einmal zu sehen. Im ersten Geschäft, die sich hier in jeder Straße haufenweise finden lassen, gab es ein so vielfältiges Angebot, dass mir sofort klar war, wieder in der Zivilisation angekommen zu sein.

Neue Sprachen und Schriften, neue Produkte – eine neue Art mit einem Land umzugehen, in das wir reisen. Nach den meisten Grenzen steht uns dieser Wandel bevor, so auch in China.

Der erste Eindruck eines Landes ist der wichtigste Parameter für mich, wie ich mich in den ersten Nächten und Tagen fühle. China veränderte zwar einige Bereiche des alltäglichen Lebens stark, doch durch die muslimisch, zentralasiatische Lebensweise der Uiguren gab es auch viel Bekanntes, das den Einstieg sehr vereinfachte. An unserem zweiten Tag kamen wir schließlich in Kashgar an, wo wir drei Nächte verbrachten. Bis hierher hatte ich meine Route von zuhause geplant, nun galt es sich auf die zweitgrößte Sandwüste der Erde – die Taklamakan (Wüste ohne Wiederkehr) – vorzubereiten.

Durch meine Recherchen wusste ich, dass es im Juli und August sehr heiß werden könne und dass fast ausschließlich ein nerviger und teils starker Wind von Osten kommend weht. Wir waren also auf eine harte Zeit mit viel Gegenwind eingestellt und genossen das reichliche Überangebot an Früchten, Gemüse, Fleisch und anderen Fressalien, die so einen Stadt-Aufenthalt nach langem Verzicht versüßen. Doch so reichlich Süßes scheinen die Chinesen nicht zu essen, das was bleibt, ist Tüten-Eis – aber auch dieses gibt es meist nur mit Mais, Erbsen und Kaffeebohnen. Eine andere Leidenschaft der chinesischen Esskultur scheint das Verpacken tierischer Produkte in eingeschweißte Plastikfolie zu sein. In jedem noch so kleinen Laden findet man Hähnchenkeulen und -füße, Tintenfische und andere undefinierbare Meerestiere. Nach neugierigem Test bleiben diese Tüten bei unseren Einkäufen aber unangetastet im Regal stehen.

In Kashgar dominiert neben der Supermarkt-Kultur weiterhin die muslimische Lebensweise, so dass genügend Essen auf Grills und heißen Öfen zubereitet wird. Man ist somit nicht auf die Geschäfte angewiesen und bekommt sein Mahl auch außerhalb des riesigen Verpackung-Wahns. Die Chinesen haben zwar ehrgeizige Pläne immer mehr Einwohner aus dem völlig überbevölkerten Osten in diese Westregionen zu locken, teilweise mit Erfolg. Vor ein paar Jahren hat der Anteil der Han-Chinesen tatsächlich den der Uiguren übertroffen – ein wesentlicher Aspekt der Unruhen-Entwicklung?! Denn diese haben Angst, dass ihre Kultur durch das ferne Peking immer mehr unter- bzw. zerdrückt wird.

Neben den turbulenten und marktschreierischen Nachtmärkten mit unwiderstehlichen Angeboten gibt es aber nicht all zuviel zu sehen in dieser Grenzstadt und Hochburg der Uiguren, weshalb wir uns nach 3 Tagen auf den langen Weg ins 1500 Kilometer entfernte Urumqi machen – wo es in den letzten Monaten auch immer Aufstände und Tote gegeben hat.

Entlang des Tianshan-Gebirges müssen wir teilweise riesen Distanzen überbrücken, um auf dem Abschnitt der alten Seidenstraße wieder Oasen-Städte zu erreichen, in denen es etwas Wasser gibt. Mit alter Seidenstraßen-Romantik hat das alles aber nichts mehr zu tun. Es gibt nur eine Straße, die durch Autobahn ersetzt wurde, die wir trotz Verbotsschildern aber mit dem Fahrrad befahren dürfen. Links und rechts ist die Fahrbahn von türkisen Leitplanken eingezwängt, hinter denen sich noch ein nicht endender Stacheldrahtzaun verbirgt, so dass wir abends echt Mühe haben wieder von der Autobahn herunterzukommen, um versteckt einen Zeltplatz zu finden. Zelten ist nämlich auch verboten, so haben wir gehört. Wenn die Polizei einen erwischt, dann wird man ins nächste Hotel gebracht, so heißt es. Die Registrierungspflicht betrifft uns zum Glück nicht, denn eine Registrierung ist ab einem Aufenthalt von über 24 Stunden an einem Ort notwendig.

Der beschwerliche Weg fällt uns durch unser Höhentraining leichter als gedacht. Teilweise erreichen wir abends ohne große Steigungen und Mühen die 150 Kilometer. Durch die Umstellung auf Peking-Zeit wird es erst gegen 22 Uhr dunkel, abends ist also immer viel Zeit einen Schlafplatz zu finden. Über Aksu, Korla geht es ins über tausend Kilometer entfernte Turpan, der als heißester Ort Chinas gilt. Tatsächlich erreichen wir wieder mal über 50°C in der Sonne. Zwei schweißtreibende Pässe hatten wir bis dorthin zu überqueren und als wir von den 1600 Metern Höhe ins Senken-Tal fahren, stoßen wir regelrecht gegen eine Hitze-Wand.

Mit einigem an Wind hatten wir zu kämpfen, um dorthin zu kommen, doch auch andere Verkehrsteilnehmer scheinen ihre Mühe mit den natürlichen Kräften zu haben. Alleine auf der 10 Kilometer Abfahrt sehen wir drei Unfälle mit LKWs, die ineinander krachten oder neben der Straße umgekippt im Sand liegen. Anscheinend schlafen hier einige Fahrer durch den Hitze-Schock teilweise kurz ein. Doch wir fahren vorsichtig und kommen ohne Unfall in Turpan an. Es ist eine Region, die mit über 150 Metern unterm Meeresspiegel als zweit- oder dritt-tiefste Stelle der Erde zählt. Unser tiefster Punkt liegt hingegen „nur“ bei ca. -50 Hm als wir von der „Trauben-Stadt“ Turpan in Richtung Hami („Melonen-Stadt“) aufbrechen.

Es ist heiß und der Wind bremst uns ständig. Es gibt keine Vegetation, keine Hindernisse, die ihn aufhalten könnten. Städte müssen eine willkommene Abwechslung sein, denke ich. Doch in den letzten Jahren wurde viel in den Wohnungsbau investiert. Ganze Viertel werden neu hochgezogen, wir sehen viele Hochhaus-Skelette, die sich viele Kilometer an der Straße entlang ziehen – alle unbewohnt und noch nicht fertiggestellt. China hat echt Großes vor, auf der einen Seite stehen noch die einstöckigen, halb zerfallenen Hütten der damaligen Stadt, auf der anderen Seite glänzen die Hochhaus-Fassaden des neuen „modernen“ Chinas.

Die Städte scheinen jedoch schon heute viel zu voll zu sein. Wir kommen aus der lebensfeindlichen Wüste in die knappen Millionenstädte, wundern uns, wie es nur sein kann, dass in so einer toten Gegend so viele Menschen leben können. Ich stelle mir Fragen nach der Nachhaltigkeit. Woher kommt das ganze Wasser, um diese Massen hier zu ernähren? Oder ist diese Frage zweitrangig und es geht primär darum den Osten Chinas zu „entvölkern“?

Ich finde darauf keine Antwort, aber dieses Bild kann einfach nicht stimmen. Städte sind für mich keine wirkliche Alternative und trotz des Windes schlagen wir uns jedes Mal wieder in die Wüste, um weiter zu kommen und diese Gegend hinter uns zu lassen.

Nach ungefähr 2000 Kilometern entlang der Wüste erreichen wir endlich Hami, die letzte große Oasen-Stadt in Xingjiang. Hier bekommen wir zum ersten Mal Probleme mit der Hotel-Suche. Ein Business-Hotel darf uns nicht aufnehmen und die Polizei kommt vorbei, um uns in ein Hostel zu eskortieren. Doch dieses Hostel befindet sich leider im Umbau, weshalb der Beamte uns in ein teures Business-Hotel führt, das wir aber nicht bezahlen wollen. Nach Rücksprache zeigt er uns eine Straße, wo viele Hotels zu finden seien und wo wir bleiben können. Wir verabschieden uns freundlich und wollen uns in eine der vielen Unterkunftsmöglichkeiten einquartieren, doch die Besitzer winken alle ab. Sie dürfen keine Ausländer aufnehmen, geben uns am Ende aber die Adresse eines Hotels, in dem wir bleiben können. Wir fahren die 3 Kilometer und sind überrascht, denn das besagte Hotel ist das einzige Vier-Sterne-Hotel in der Stadt. Ohne Alternative sagen wir nach einem fairen Angebot zu, dort zu nächtigen. Unseren ursprünglichen Plan für zwei Nächte zu bleiben, ändern wir in nur eine Nacht um. Das bedeutet für mich wieder alle Angelegenheiten möglichst sinnvoll zu verbinden, um keine Zeit zu verlieren.

In Hami müssen gemachte Pläne wohl immer schnell über den Haufen geworfen werden. Ich mache mich gerade mit zwei voll gepackten Einkaufstaschen auf den Heimweg und bin nur noch eine Ecke vom Hotel entfernt, als mich vier SWAT-Einsatzkräfte mit Shotgun bewaffnet stoppen. Sie beleiten mich zu einer der Polizei-Stationen und checken meinen Ausweis. Danach beginnt das Verhör, das mich am Ende 1,5 Stunden Zeit kostet. Sie bleiben stets freundlich, aber sprechen kein Englisch. Mit Smartphone und Übersetzer versuchen sie sich verständlich zu machen, wollen wissen wo ich eingereist bin, wo ich hin will, wie lange ich bleibe, wo ich schlafe, wie ich aus Hami wieder weg komme, ob ich alleine reise und noch ein paar Fragen mehr. Es ist bereits dunkel geworden, doch eine öffentliche Wachablösung mit zeremonieller Shotgun-Übergabe muss ich noch mit ansehen, bevor die letzten Angelegenheiten geklärt sind und ich wieder ein freier Mann bin. Nun aber schnell ins Hotel und Sachen erledigen, Rolf wartet schon und morgen geht’s früh weiter – am Abend komme ich eigentlich zu nichts mehr. Danke schön!

Die darauf folgenden Tage sind eigentlich ereignislos, es geht durch Wüste mit Gegenwind – wie gehabt. Doch auf einem Autobahn-Parkplatz treffen wir auf zwei Radfahrer (Ratet mal woher – aus Deutschland). Der 56-jährige Siegfried und der 34-jährige Heiner sind aus Dresden über Russland und Kasachstan nach China gereist. Wir sind für sie die ersten Radfahrer, die sie auf ihrer Reise treffen. Kaum zu glauben, aber anscheinend quält sich alles durch Zentralasien „unten rum“. Sie sind leicht bepackt, haben keine Front-Taschen und sind mit schicken Alu-Flitzern unterwegs. Mir gefällt dieses Erscheinungsbild und ich fange an zu überlegen wie ich meine Ausrüstung weiter optimieren kann.

Zusammen erreichen wir das Ende unserer ersten Provinz Xianjiang und treten in die Provinz Gansu ein. Es ist eine andere Provinz – bedeutet das gleichzeitig ein freieres China?

Dieser Beitrag wurde unter Reiseberichte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.